Beschneiden von überhängenden Ästen bei Gefährdung der Standfestigkeit eines Baumes

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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs, der unter anderem für Fragen des Nachbarrechts zuständig ist, hat heute entschieden, dass ein Eigentümer eines angrenzenden Grundstücks - vorbehaltlich eventueller Beschränkungen durch Naturschutzgesetze - das Recht zur Selbsthilfe gemäß § 910 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) in Anspruch nehmen darf, selbst wenn durch das Zurückschneiden von überhängenden Ästen das Absterben des Baumes oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.

Sachverhalt:

Die beteiligten Parteien sind Nachbarn. Auf dem Grundstück der Kläger steht eine Schwarzkiefer, die unmittelbar an der gemeinsamen Grundstücksgrenze seit etwa 40 Jahren wächst und mittlerweile eine Höhe von etwa 15 Metern erreicht. Die Äste dieses Baumes, von denen Nadeln und Zapfen herabfallen, erstrecken sich seit mindestens 20 Jahren über das Grundstück des Beklagten. Nachdem der Beklagte die Kläger erfolglos aufgefordert hatte, die überhängenden Äste zu kürzen, hat er selbst die Äste abgeschnitten. Die Kläger verlangten in ihrer Klage, dass der Beklagte es unterlassen solle, von der Schwarzkiefer Zweige oberhalb von fünf Metern über der Grundstücksgrenze abzuschneiden. Ihrer Ansicht nach gefährdet das Abschneiden der Äste die Standfestigkeit des Baumes. Die Klage war in den Vorinstanzen erfolgreich.


Die relevanten rechtlichen Bestimmungen lauten:

§ 910 BGB

(1) Der Eigentümer eines Grundstücks kann Wurzeln eines Baumes oder eines Strauches, die von einem Nachbargrundstück eingedrungen sind, abschneiden und behalten. Das Gleiche gilt von herüberragenden Zweigen, wenn der Eigentümer dem Besitzer des Nachbargrundstücks eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt hat und die Beseitigung nicht innerhalb der Frist erfolgt.

(2) Dem Eigentümer steht dieses Recht nicht zu, wenn die Wurzeln oder die Zweige die Benutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigen.

§ 1004 BGB

(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen.

(2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat das Urteil der Berufungsinstanz aufgehoben und den Fall zur erneuten Prüfung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Begründung des Berufungsgerichts, wonach die Kläger das Zurückschneiden der Äste gemäß § 910 BGB nicht dulden müssten, da diese Regelung nur unmittelbare Beeinträchtigungen durch überhängende Äste abdecke und nicht mittelbare Folgen wie den Fall von Nadeln und Zapfen, wurde durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 14. Juni 2019 (V ZR 102/18) überholt. Aus diesem Grund wurde das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben. Das Berufungsgericht wird nunmehr zu klären haben, ob die Nutzung des Grundstücks des Beklagten durch den Überhang der Äste beeinträchtigt wird. Sollte dies der Fall sein, ist die Entfernung der überhängenden Äste durch den Beklagten für die Kläger auch dann nicht unzumutbar, wenn dies das Absterben des Baumes oder den Verlust seiner Standfestigkeit zur Folge haben könnte. Das Selbsthilferecht gemäß § 910 Abs. 1 BGB wurde vom Gesetzgeber in seiner Absicht, es einfach und verständlich zu gestalten, formuliert, weshalb insbesondere keine Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung erforderlich ist. Die Verantwortung dafür, dass Äste und Zweige nicht über die Grundstücksgrenze hinausragen, liegt beim Eigentümer des Grundstücks, auf dem der Baum steht. Dies gehört zur ordnungsgemäßen Bewirtschaftung seines Grundstücks. Wenn er dieser Pflicht - wie im vorliegenden Fall die Kläger - nicht nachkommt und die Äste des Baumes über die Grundstücksgrenze hinauswachsen lässt, kann er nicht verlangen, dass sein Nachbar das Abschneiden der Äste an der Grundstücksgrenze unterlässt und die Beeinträchtigung seines Grundstücks hinnimmt, indem er darauf hinweist, dass der Baum (nunmehr) durch das Abschneiden der Äste an der Grenze seine Standfestigkeit verlieren oder absterben könnte. Allerdings kann das Selbsthilferecht durch Bestimmungen des Naturschutzrechts, beispielsweise durch Baumschutzsatzungen oder -verordnungen, eingeschränkt sein. Ob dies hier der Fall ist, obliegt der Prüfung des Berufungsgerichts.

Vorinstanzen:

Amtsgericht Pankow/Weißensee – Urteil vom 8. August 2018 – 7 C 146/18

Landgericht Berlin – Urteil vom 9. September 2019 – 51 S 17/18

Foto(s): Udo Kuhlmann


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