Kündigung schwerbehinderter Menschen und nachträgliche Geltendmachung des Sonderkündigungsschutzes

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Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer kann sich auch nach Zugang einer Kündigung auf den Schwerbehindertenschutz der §§ 85 ff. SGB IX berufen. Dazu muss er innerhalb der Frist des § 4 KSchG den Arbeitgeber über die Schwerbehinderteneigenschaft informieren.

Dies war schon Gegenstand der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Das Bundesarbeitsgericht hat aber weitergehend entschieden, dass dem Beschäftigten bezüglich der Inkenntnissetzung des Arbeitgebers zusätzlich zu der Dreiwochenfrist des § 4 KSchG auch eine Zeitspanne zu gewähren ist, innerhalb derer er den Zugang der Mitteilung an den Arbeitgeber bewirken könne.

Weiter ist zu beachten, dass die Anhörung des Betriebsrats gegebenenfalls noch vom Arbeitgeber ergänzt werden muss, wenn sich vor Ausspruch der Kündigung noch wesentliche Änderungen im Sachverhalt ergeben, soweit diese sich wesentlich zugunsten des Arbeitnehmers ändern. Denn der Betriebsrat soll umfassend über die zugrundeliegenden Tatsachen informiert werden, damit er die Stichhaltigkeit der Kündigung überprüfen und auf den Arbeitgeber möglicherweise noch einwirken kann.

Bundesarbeitsgericht v. 22.09.2016 – 2 AZR 700/15

Der Kläger ist als Leiter Corporate Audit bei der Beklagten beschäftigt. Er leidet an Krebs. Das Versorgungsamt bescheinigt ihm einen Grad der Behinderung von 70, erkennt also eine Schwerbehinderung an. Der Arbeitgeber hat hiervon keine Kenntnis. Er verdächtigt den Kläger der Weitergabe von vertraulichen Firmeninformationen an Dritte. Deshalb hört er den Betriebsrat zu einer beabsichtigten Kündigung an und spricht dann die Kündigung aus. Der Kläger beruft sich nun nachträglich auf den Schwerbehindertenkündigungsschutz. Die diesbezügliche Mitteilung geht 22 Tage nach Erhalt der Kündigung beim Arbeitgeber ein. Der Arbeitgeber leitet nun das Verfahren zur Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung nach § 85 SGB IX ein und spricht nach nochmaliger Anhörung des Betriebsrats eine weitere Kündigung aus. Gegenstand der letzteren Betriebsratsanhörung ist aber nicht die nunmehr bekannt gewordene Schwerbehinderung und das Integrationsamtsverfahren.

Im Kündigungsschutzprozess beruft sich der Arbeitgeber darauf, dass eine Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung nicht notwendig gewesen sei. Der Kläger macht geltend, der Betriebsrat sei zu der zweiten Kündigung nicht ausreichend angehört worden.

Das Bundesarbeitsgericht hält beide Kündigungen für unwirksam.

Habe der schwerbehinderte Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits einen Bescheid über seine Schwerbehinderteneigenschaft erhalten oder wenigstens rechtzeitig einen entsprechenden Antrag beim Versorgungsamt gestellt, stehe ihm der Sonderkündigungsschutz nach §§ 85 ff. SGB IX auch dann zu, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft oder der Antragstellung keine Kenntnis gehabt habe.

Dazu müsse er den Arbeitgeber nach Ausspruch der Kündigung allerdings über die Schwerbehinderteneigenschaft nachträglich in Kenntnis setzen. Hierfür müsse ein angemessener Zeitraum eingehalten werden. Für die Beurteilung der Angemessenheit des Zeitraums sei entsprechend auf den Zeitraum des § 4 KSchG zurückzugreifen. § 4 KSchG regelt die Anrufungsfrist für Kündigungsschutzklagen von drei Wochen. Diese Frist kommt hier also sinngemäß zur Anwendung.

Hinzuzurechnen sei die Zeitspanne, innerhalb derer der Beschäftigte den Zugang der Mitteilung über den bestehenden Sonderkündigungsschutz beim Arbeitgeber zu bewirken habe. Ein Berufen auf den Sonderkündigungsschutz innerhalb dieses Zeitraums sei regelmäßig nicht als illoyal verspätet anzusehen. Hierbei dürfe es dem Arbeitnehmer auch nicht zum Nachteil gereichen, wenn er – etwa zu Beweiszwecken – eine schriftliche Information wähle. Mit diesen Grundsätzen sei keine starre Grenze von drei Wochen, innerhalb derer der Arbeitgeber informiert sein müsste, zu vereinbaren.

Hinsichtlich der Betriebsratsanhörung urteilt das Bundesarbeitsgericht weiter, der Arbeitgeber habe bei Kenntniserlangung und Einleitung des Integrationsamtsverfahrens auch den Betriebsrat über diese weitere Information zu unterrichten.

Dr. Bert Howald

Rechtsanwalt

Fachanwalt für Arbeitsrecht

Anwaltskanzlei Gaßmann & Seidel, Stuttgart


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