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Scheinselbstständigkeit – der lange Weg zur Rechtssicherheit

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Die Abgrenzung von echter Selbstständigkeit und Scheinselbstständigkeit ist in der Praxis nicht nur für Laien oftmals schwierig. Auch die Sozialgerichte beurteilen ein und demselben Fall mitunter sehr unterschiedlich. Dies zeigt folgender fast kurios anmutender Fall aus unserer Praxis, der bereits seit 2008 läuft und zur Zeit beim Bundessozialgericht im Revisionsverfahren anhängig ist: Eine Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie hatte je eine Diplompsychologin und eine Diplompädagogin in ihrer Praxis unregelmäßig beauftragt, als freie Mitarbeiterinnen auf der Grundlage von Honorarverträgen bestimmte Behandlungen und Therapien für deren Patienten durchzuführen. 

Betriebsprüfung

Der Prüfdienst der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover leitete Ende 2007 eine Betriebsprüfung der Praxis ein. Eine turnusmäßige Betriebsprüfung beschränkt sich im Regelfall allerdings nur auf die Prüfung der gemeldeten Mitarbeiter und die Richtigkeit der Beitragsberechnung, Sie umfasst nicht automatisch auch eine Klärung des sozialversicherungsrechtlichen Status der freien Mitarbeiter. Eine solches Verfahren muss gesondert eingeleitet werden. Dies war hier nicht geschehen. 

Statusklärung im Anfrageverfahren

Nach Eingang der Prüfankündigung der DRV Braunschweig-Hannover beantragten die beiden Mitarbeiterinnen bei der Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund in Berlin eine Klärung ihres sozialversicherungsrechtlichen Status (sog. Anfrageverfahren). Die Clearingstelle lehnte jedoch die Bearbeitung des Antrags wegen vermeintlich fehlender Zuständigkeit ab und verwies auf das bereits laufende Verfahren des Betriebsprüfdienstes. Die Antragsunterlagen wurden dem Prüfdienst übermittelt. Der Betriebsprüfdienst wiederum leitete erst nach Eingang dieser Unterlagen explizit ein Verwaltungsverfahren über die Klärung des sozialversicherungsrechtlichen Status der beiden Honorarmitarbeiterinnen ein und stellte im Ergebnis durch Bescheid vom 25.08.2008 fest, dass es sich um abhängige und damit beitragspflichtige Beschäftigungsverhältnisse handelt. Zugleich wurden Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von knapp 52.000,00 EUR nachgefordert. Dagegen wurde Widerspruch erhoben. Beitragsbescheide sind allerdings sofort vollziehbar. Unser Widerspruch hatte somit keine aufschiebende Wirkung. Die Beiträge waren sofort fällig. Ab diesem Zeitpunkt ging es hin und her:

Vorläufiger Rechtsschutz im Eilverfahren

Gegen einen sofort vollziehbaren Beitragsbescheid kann beim Sozialgericht ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gestellt werden.

  • In unserem Fall lehnte das das Sozialgericht Hannover den Antrag jedoch mit Beschluss vom 02.02.2009 ab. Offenkundige Rechtsfehler des Prüfbescheides konnte das Gericht nicht erkennen.
  • Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen sah dies im Beschwerdeverfahren anders: Der Senat hielt einen Erfolg des Widerspruchs für wahrscheinlicher als einen Misserfolg. Viele Merkmale würden für eine Selbstständigkeit der beiden Mitarbeiterinnen sprechen. Zumindest sei der Sachverhalt noch weiter aufzuklären. Das LSG hob die Entscheidung des Sozialgerichts auf und ordnete die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs an. 

Klage und Berufung im Hauptsacheverfahren

Trotz der LSG-Entscheidung hielt die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover an ihrer Entscheidung fest und wies den Widerspruch zurück. Folglich musste im sog. Hauptsacheverfahren Klage gegen den Beitragsbescheid erhoben werden.

  • Dieser Klage gab das Sozialgericht Hannover in erster Instanz durch Urteil vom 09.05.2012 statt und hob den Prüfbescheid und damit auch die Beitragsforderung auf. Diesmal vertrag das SG die Auffassung, dass Überwiegendes für eine Selbstständigkeit spreche.
  • Gegen dieses Urteil ging nunmehr die Deutsche Rentenversicherung in die Berufung. Das LSG kam entgegen seiner Rechtsauffassung im Eilverfahren nunmehr zu dem Ergebnis, dass die Merkmale eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses überwiegen. Zur Begründung stützte sich das LSG u. a. auf Urteile anderer Landessozialgerichte, wonach eine freie Mitarbeit und damit selbstständige Tätigkeit im Gesundheitssystem nicht in Betracht komme, wenn allein der Auftraggeber, hier also die Ärztin, gegenüber den Krankenkassen abrechnungsberechtigt sei und die Mitarbeiter sich gewissermaßen nur als verlängerter Arm des Arztes darstellen. Die Revision ließ das LSG nicht zu

Revision

Gegen die Nichtzulassung der Revision wiederum wurde unsererseits Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundessozialgericht erhoben. Das BSG gab der Beschwerde statt und ließ die Revision zu. 

Unsere Nichtzulassungsbeschwerde haben wir auf zwei formelle Fragen gestützt, die nach unserer Auffassung einer grundsätzlichen Klärung bedürfen und die mit der Kernfrage „Scheinselbstständigkeit oder beitragspflichtige Beschäftigung“ zunächst einmal nichts zu tun haben. Dies hat seinen Grund darin, dass die Hürden für ein Revisionsverfahren hoch sind. Es müssen spezielle Gründe vorgetragen werden, die einer Klärung durch das BSG bedürfen. Dies sind nicht immer die Fragen, die den Kläger in erster Linie interessieren. Aus unserer Sicht sind folgende Fragen klärungsbedürftig:

War der Prüfdienst der DRV Braunschweig-Hannover für die Entscheidung über die Klärung des sozialversicherungsrechtlichen Status überhaupt zuständig? Denn bei der Clearingstelle in Berlin war bereits ein Antrag auf Statusklärung gestellt worden, bevor der Prüfdienst entschieden hatte, sich um die Statusfrage zu kümmern. Die Clearingstelle hätte die beiden Anträge nach unserer Auffassung nicht einfach an den Prüfdienst weiterleiten dürfen, sondern selbst entscheiden müssen. 

Ein zweites Argument richtet sich gegen die Erhebung von Säumniszuschlägen. Das Gesetz bestimmt in § 24 Abs. 1 und Abs. 2 SGB IV, dass ein Säumniszuschlag immer dann zu erheben ist (zwingend! Kein Ermessen!), wenn Beiträge nicht zum Ablauf des Fälligkeitstags gezahlt werden. Wird jedoch eine Beitragsforderung durch Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit festgestellt (wie in unserem Fall), dann ist der Säumniszuschlag nicht zu erheben, soweit der Beitragsschuldner glaubhaft macht, dass er unverschuldet keine Kenntnis von der Zahlungspflicht hatte. Der Arbeitgeber als Beitragsschuldner ist also in der Beweispflicht.

An diesem Punkt setzt unsere Argumentation im Revisionsverfahren an: Wir sind der Auffassung, dass einem Arbeitgeber ein Verschulden (d. h. schuldhafte Unkenntnis von seiner Beitragspflicht) zumindest dann nicht mehr vorgeworfen werden kann, wenn auch Sozialgerichte in mehreren Instanzen zu dem Ergebnis kommen, dass die Tätigkeit der betroffenen Mitarbeiter nicht beitragspflichtig war (das LSG im Eilverfahren, das Sozialgericht im Hauptsacheverfahren). Denn klüger als die Gerichte braucht ein Arbeitgeber nicht zu sein.

Im Rahmen der Revisionsbegründung, die nach Zulassung der Revision gesondert begründet werden muss, haben wir selbstverständlich auch die Frage der Scheinselbstständigkeit ausführlich thematisiert. 

Das BSG hat die Sache inzwischen auf die Liste der anhängigen Rechtsfragen gesetzt. Der Fall ist beim 12. Senat unter dem Aktenzeichen B 12 KR 11/17 R anhängig. Zur Klärung stehen folgende Fragen an:

  • Zu den Anforderungen an eine „unverschuldete“ Unkenntnis des Beitragsschuldners von seiner Zahlungspflicht im Sinne des § 24 Abs 2 SGB 4. 
  • Steht ein bereits vor Beginn der Betriebsprüfung gestellter, bisher nicht beschiedener Antrag auf Statusfeststellung im Verfahren nach § 7a SGB 4 einer Feststellung der Versicherungspflicht im Rahmen der Betriebsprüfung entgegen?

Update: Das Bundessozialgericht hat durch Urteil vom 04.09.2018 das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, dass nicht abschließend geklärt werden könne, ob die Deutsche Rentenversicherung für die Entscheidung überhaupt zuständig war, da möglicherweise vor Einleitung der Betriebsprüfung ein Anfrageverfahren bei der Clearingstelle in Berlin beantragt worden war. In diesem Fall wäre die Clearingstelle für die Entscheidung zuständig. Außerdem könne über den Status noch nicht entschieden werden. Die Verträge über eine freie Mitarbeit in der Praxis der Ärztin nehmen Bezug auf die Sozialpsychiatrie-Vereinbarung. Diese Rahmenbedingungen sind zu berücksichtigen. Dies sei zunächst Sache des Berufungsgerichts.

Die Entscheidung des LSG steht noch aus. 

BSG -  Urteil vom 04.09.2018 - B 12 KR 11/17 R

Die positiven Entscheidungen des LSG im Eilverfahren und des SG Hannover im Hauptsacheverfahren finden Sie auf unserer Website: Scheinselbstständigkeit in der Arztpraxis

Dieser Beitrag dient zur allgemeinen Information und entspricht dem Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Eine individuelle Beratung wird dadurch nicht ersetzt. Jeder einzelne Fall erfordert fachbezogenen Rat unter Berücksichtigung seiner konkreten Umstände. Ohne detaillierte Beratung kann keine Haftung für die Richtigkeit übernommen werden. Vervielfältigung und Verbreitung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verfassers.


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