Zehn Fakten zum Verfassungsrecht

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Das Verfassungsrecht ist eine Materie, die die meisten Bürger relativ wenig betrifft. Zugleich ist natürlich das gesamte Recht, an das wir uns tagtäglich zu halten haben, Ausfluss des Verfassungsrechts – ohne Verfassungsrecht gäbe es keinen Gesetzgeber, der Gesetze erlässt. Durch Verfassungsbeschwerden lässt sich klären, inwieweit der Staat in unsere Rechte eingreifen kann. Und nicht selten sorgen Entscheidungen aus Karlsruhe für erhebliche politische Unruhe.

Dieser Artikel soll einige, hoffentlich interessante Grundkenntnisse zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik vermitteln.

1. Der Begriff „Grundgesetz“ war ein PR-Trick

In der Anfangsphase der Bundesrepublik war die Wiedervereinigung absolute Staatsräson. Kein Politiker, der das in Frage gestellt hätte, hätte die nächste Wahl überlebt. Dazu gehörte auch, dass die Bundesrepublik nur als vorläufiger Staat begriffen wurde.

Daher nannte man die Verfassung der Bundesrepublik auch lieber nicht „Verfassung“, da dies zu definitiv geklungen hätte. Stattdessen einigte man sich auf die Bezeichnung „Grundgesetz“, die aber in der Sache nichts Anderes bedeutet.

Schon im Mittelalter bezeichnete man die Verfassungsnormen des Heiligen Römischen Reiches als Grundgesetze. Außerhalb der juristischen und historischen Fachwelt war dies jedoch den wenigsten Menschen bewusst.

2. Protokollarische Nr. 1 in Deutschland ist der Bundespräsident

Der Bundespräsident ist formal das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik. Viele staatliche Akte wie die Ernennung von Amtsträgern oder die Unterzeichnung von Gesetzen geschehen durch ihn.

Dabei handelt er jedoch sehr selten aus eigenem Entschluss, sondern vollzieht meist nur das, was andere Verfassungsorgane entschieden haben. Teilweise wird der Bundespräsident daher auch als „Staatsnotar“ bezeichnet.

3. Verfassungsrechtliche Nr. 1 in Deutschland ist der Bundestag

In der Verfassungskonzeption des Grundgesetzes gehen die meisten Entscheidungen auf den Bundestag zurück. Dieser beschließt nicht nur, wie jedes Parlament, die Gesetze des Bundes. Er wählt auch den Bundeskanzler, wirkt an der Wahl des Bundespräsidenten mit, kann von der Bundesregierung Rechenschaft verlangen und wählt die Verfassungsrichter.

4. Politische Nr. 1 in Deutschland ist der Bundeskanzler

In der politischen Wirklichkeit dagegen ist der Bundeskanzler die wohl wichtigste Person. Er entscheidet die Politik der Bundesregierung und ist somit, jedenfalls indirekt, mit der Ausarbeitung von Gesetzen betraut. In der Tagespolitik gibt der Kanzler den Ton an, schon allein deswegen, weil der Bundestag nicht ständig versammelt ist und sich über 700 Abgeordnete nur selten auf eine einhellige Meinung verständigen können.

5. Das Grundgesetz hält nicht viel von Gewaltenteilung

Gewaltenteilung bedeutet, dass die klassischen Staatsgewalten Exekutive (Regierung), Legislative (Parlament) und Judikative (Rechtsprechung) voneinander getrennt sind. Sie können sich gegenseitig kontrollieren, aber das eine Amt sollte nicht vom anderen abhängig sein.

Die Verfassung des Grundgesetzes hat jedoch, siehe oben, ein Konzept gewählt, nachdem der Bundestag die entscheidende Instanz ist, die auch die anderen Staatsgewalten bestimmt. Die meisten Mitglieder der Bundesregierung sind regelmäßig auch Abgeordnete, die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag spiegeln sich in anderen Verfassungsorganen wider.

Dieses System bezeichnet man auch als Gewaltenverschränkung: Die Organe als solche bestehen, sie sind aber untereinander personell verbunden.

6. Die Grundstrukturen des Grundgesetzes gehen auf den Norddeutschen Bund zurück

Der erste deutsche Staat im heutigen Sinne war das Kaiserreich, das aber seinerseits mit dem Norddeutschen Bund identisch war und dessen Verfassung mit wenigen Änderungen übernahm.

Zwar waren diese Verfassungen ganz auf die Monarchen, insbesondere auf den preußischen König und deutschen Kaiser zugeschnitten. Die Grundstrukturen ähnelten jedoch schon dem heutigen Grundgesetz.

So wurde der Regierungschef als Kanzler bezeichnet und es gab den vom Volk gewählten Reichstag neben dem von den Regierungen entsandten Bundesrat. Die Gesetzgebung funktionierte ganz ähnlich wie in der heutigen Bundesrepublik, ebenso die Gesetzesausführung.

7. Viele Grundgesetzbestimmungen sind ein Gegenentwurf zur Weimarer Verfassung

Wenn man sich fragt, warum es eine bestimmte Verfassungsregelung im Grundgesetz gibt, lautet die Antwort sehr oft „Weimar“. Man wollte aus den Erfahrungen des Scheiterns der ersten deutschen Republik Konsequenzen ziehen und bestimmte Fehler, die in der Weimarer Reichsverfassung gemacht wurden, nicht wiederholen.

So soll die Fünfprozenthürde einer Zersplitterung des Bundestags vorbeugen, ebenso kann der Kanzler nur abgewählt werden, wenn zugleich eine Mehrheit für einen anderen Kandidaten besteht (konstruktives Misstrauensvotum). Volksentscheide wurden praktisch überhaupt nicht vorgesehen. Dafür sollten die Grundrechte verbindliches Recht (Art. 1 Abs. 3 GG) sein und nicht nur unverbindliche Programmsätze wie in der Weimarer Reichsverfassung.

8. Das Grundgesetz übernimmt Teile der Weimarer Verfassung

Umso überraschender ist es da, dass das Grundgesetz einzelne Bestimmungen der Weimarer Verfassung übernimmt – und zwar nicht nur sinngemäß oder wörtlich, sondern durch direkten Verweis auf die Verfassung. Art. 140 GG besagt:

Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.

Bei diesen Bestimmungen handelt es sich um die Grundzüge des Staatskirchenrechts, also um das Verhältnis zwischen dem Staat und den (christlichen) Kirchen.

Weil im Parlamentarischen Rat noch erhebliche Gegensätze hinsichtlich Religions- und Kirchenfragen herrschten, schien ein Kompromiss, den alle Parteien ihren Anhängern hätten verkaufen können, unmöglich. Darum einigte man sich auf diese ungewöhnliche Konstruktion, alles beim Alten zu lassen.

9. Das Grundgesetz wird laufend geändert

Das Grundgesetz kann in einem vergleichsweise einfachen Verfahren geändert werden: Es braucht nur eine Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen in Bundestag und Bundesrat. Dies ließ sich (jedenfalls bis 2017) häufig durch eine Einigung zwischen den beiden größten Parteien erreichen.

Dementsprechend oft wurde das Grundgesetz seitdem geändert: Ca. 61 GG-Änderungen schlagen seit 1949 zu Buche, häufig wurden gleich mehrere Artikel geändert. Die meisten Verfassungsänderungen betrafen das Verhältnis zwischen Bund und Ländern (in der Regel mit der Folge einer weiteren Zentralisierung) oder die Erweiterung der Einschränkungsmöglichkeiten für Grundrechte.

10. Das Grundgesetz enthält Fehler

Im Grundgesetz gibt es einige redaktionelle Fehler.

So verweist bspw. Art. 144 Abs. 2 GG auf die „in Artikel 23 aufgeführten Länder“. Artikel 23 enthält aber schon lange keine Liste der Bundesländer mehr. Und sogar als dies (vor der Wiedervereinigung) noch der Fall war, war dieser Artikel nie richtig – so stand dort unter anderem, Ost-Berlin sei Teil der Bundesrepublik, Baden-Württemberg und das Saarland fehlten dagegen.

Außerdem behauptet das Grundgesetz, nur Deutsche könnten sich auf bestimmte Grundrechte (z. B. die Vereinigungs- oder die Versammlungsfreiheit) berufen. Anerkannt ist aber, dass diese Rechte entgegen dem Wortlaut auch für EU-Ausländer gelten.

Der Wortlaut des Art. 142 GG ist völlig verunglückt und klingt nach dem Gegenteil dessen, was er wirklich aussagen will.


Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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