75 Jahre Grundgesetz – nicht viel zu feiern

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Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Viel zu feiern gibt es dabei, nüchtern betrachtet, nicht.

Das größte Verdienst des Grundgesetzes ist es, dass es nach einem Dreivierteljahrhundert noch besteht. Das ist zugegebenermaßen weder im internationalem Maßstab noch im Vergleich mit historischen deutschen Verfassungen selbstverständlich.


Stabilität durch das Grundgesetz

Etwas positiver gewendet bedeutet das, dass das Grundgesetz dem Staatsaufbau der Bundesrepublik eine erhebliche Stabilität verliehen hat. Dies wird bei rituellen Sonntagsreden zu Ehren des Grundgesetzes auch immer wieder betont.

Das wiederum liegt aber auch daran, dass das Grundgesetz noch nie einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt war. Einem Staatsstreich oder einem potentiellen Diktator könnte es wohl, wie andere Verfassungen auch, nicht viel entgegensetzen.


Wenig Grundrechtsschutz

Gerne wird betont, wie freiheitsfreundlich das Grundgesetz doch sei. Den Grundrechtsteil, insbesondere die Artikel 1 bis 19, haben andere Staaten als Vorlage für ihre Verfassungen übernommen.

In der Praxis sind die Grundrechte aber oft nicht mehr als schöne Worte auf würdevollem Papier. Alle Grundrechte sind unter bestimmten Voraussetzungen, meist aber aus fast jedem beliebigen Anlass einschränkbar. Der Staat muss lediglich Formalien beachten, vor allem die Grundrechtseinschränkung in ein Gesetz packen.


Schlechte Zeiten für die Meinungsfreiheit

Was in letzter Zeit immer mehr unter die Räder kommt, ist die Meinungsfreiheit. Kritik an Politikern, ob harmlos oder überzogen, wird immer mehr zum Gegenstand von Strafverfahren. Man mag nun einwenden, dass diese Verfahren oft eingestellt werden oder mit Freisprüchen enden.

Das bedeutet dann aber, dass man als Beschuldigter regelmäßig hohe Summen bezahlt hat, um von einem Strafrechts-Experten im Ermittlungsverfahren oder sogar in der Hauptverhandlung verteidigt zu werden. Was eine Hausdurchsuchung bei einer unbescholtenen Person psychisch auslöst, kann man sich vorstellen.

Davon abgesehen verlaufen solche Prozesse keineswegs zwingend im Sande, bspw. werden Anspielung auf gewisse Strömungen in der Anfangsphase der Grünen heute teilweise als strafbare Volksverhetzung verurteilt.

Gegen all das helfen die Grundrechte des Grundgesetzes wenig. Außerhalb des Fachrechtswegs kann man nachträglich über eine Verfassungsbeschwerde zumindest versuchen, die eigene Meinungsfreiheit zu verteidigen.


Corona zeigt Anfälligkeit des Rechtsstaats

Wie verletzlich die freiheitliche Grundordnung doch ist, hat die Corona-Pandemie gezeigt. Natürlich, in dieser ganz außergewöhnlichen Situation war es für die verantwortlichen Politiker und die entscheidenden Gerichte sehr schwer, die richtigen Reaktionen zu finden und Maßnahmen zu treffen. Aber die Kontrollfreudigkeit der Gerichte, vor allem der Verfassungsgerichte, war weitestgehend sehr gering – sogar bei offensichtlich völlig übertriebenen Anordnungen.


Keine Wirtschaftsgrundrechte

Weiterhin fehlen Wirtschaftsgrundrechte im Grundgesetz fast völlig. Die Berufsfreiheit, das Eigentumsgrundrecht und ganz untergeordnet die allgemeine Handlungsfreiheit decken, auch aufgrund ihrer rigiden Auslegung durch die Gerichte, nur einige Aspekte des Wirtschaftslebens ab.

Die Vertragsfreiheit wird nirgends richtig erfasst, was sich auch darin zeigt, dass der Gesetzgeber immer häufiger in diese eingreift und die Entscheidungsmöglichkeiten der wirtschaftlich tätigen Personen immer enger werden.


Auch das BVerfG verwundert oft

Aber auch das Bundesverfassungsgericht selbst zeigt sich nicht immer von seiner besten Seite. Böse Zungen behaupten, dass dessen guter Ruf in der Öffentlichkeit vor allem darin begründet ist, dass kaum jemand seine Rechtsprechung wirklich kennt.

Die Erfolgsaussichten von Verfassungsbeschwerden sind notorisch gering, aber nicht, weil diese so schlecht formuliert werden, sondern weil das BVerfG die Hürden immer höher schraubt, seine Prüfmaßstäbe immer enger fasst und auch festgestellte Fehler von Fachgerichten oftmals durchgehen lässt. Die Durchsetzung des Grundrechtsschutzes ist ohne Experten in diesem Bereich kaum noch möglich.

Einige juristische Aussagen der Karlsruher Richter verwundern zunehmend: In Bezug auf EU-Recht sollen die Grundrechte teilweise gar nicht mehr gelten. In Klimadingen sollen theoretische Interessen von in vielen Generationen irgendwo auf der Erde lebenden Menschen die Grundrechte der heutigen Bundesbürger verdrängen. Wenn es um Staatsverschuldung und Zinslasten in nächster Zukunft geht, wird dies dagegen viel lockerer gesehen.


Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Heilige Kuh

Eine heilige Kuh des Bundesverfassungsgerichts ist auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Das Tabu, dass der Staat sich in die Meinungsbildung der Bürger einmischt, wird durch die Bezeichnung als „öffentlich-rechtlich“ nur mäßig kaschiert – wer sich zumindest etwas mit der Juristerei auskennt, weiß, dass das Öffentliche Recht gerade das Recht des Staates und seiner Institutionen ist.

Trotzdem schützt das BVerfG diesen Rundfunk, soweit es nur geht. Beitragserhöhungen sind sakrosankt, von einem Zurückfahren des Sendebetriebs kann überhaupt keine Rede sein und dass ihn jeder, der eine Wohnung hat, finanzieren muss, wird großzügig durchgewunken. Auch die Aktivitäten im Internet, das über Jahrzehnte wunderbar ohne Staatsrundfunk funktioniert hat, werden kaum in die Schranken gewiesen.

Das alles geht selbstverständlich zu Lasten anderer Anbieter, die nicht neun Milliarden Euro im Jahr ohne wirtschaftliche Zwänge geschenkt bekommen.


Wahlrecht zur Machterhaltung

Was das Grundgesetz praktisch überhaupt nicht verhindert, sind Manipulationen am Wahlrecht. Gemeint sind damit freilich keine Wahlfälschungen, sondern Veränderungen der rechtlichen Bestimmungen, um den etablierten Parteien zu helfen.

Dies sind zum einen Unterschriftenhürden vor dem Wahlantritt, zum anderen die Fünfprozenthürde. Schließlich sorgen dann noch Gestaltungen bei der Mandatsvergabe meist zu Vorteilen für die Parteien, die diese Regelungen verabschieden.

Hier greift das Bundesverfassungsgericht zugegebenermaßen immer wieder ein und bremst allzu einseitige Gesetze aus. Konsequenzen für die handelnden Politiker hat das aber nicht, darum probieren sie eben aus, wie weit sie gehen können und wann sie aus Karlsruhe zurückgepfiffen werden.


Kein echter Föderalismus

Die Bundesrepublik gilt als besonders föderaler Staat, in dem die Gliedstaaten (also die Bundesländer) besonders viele Kompetenzen hätten. Sieht man genau hin, kann davon nicht die Rede sein.

Die Bundesländer haben kaum noch eigene Zuständigkeiten und mit jeder Föderalismusreform werden es weniger. Steuern, Strafrecht, Zivil- und Familienrecht, Gesundheitswesen, Baurecht, Energieversorgung – alles wird im Wesentlichen oder gar ausschließlich durch den Bund geregelt.

In die originären Länderthemen wie Bildung und Sicherheit mischt sich der Bund immer mehr ein, sei es nun durch echte Festlegungen oder durch angebliche Nettigkeiten wie zweckgebundene Geldleistungen.


Verlagerung nach Brüssel

Neben der Zentralisierung in Richtung Bund findet auch eine immer stärker werdende Verlagerung nach Brüssel statt. Artikel 23 GG erlaubt die europäische Integration ausdrücklich und steht auch einer Übertragung von Hoheitsrechten an die sog. Europäische Union wenig kritisch gegenüber.

Dass die EU sich aber immer mehr Zuständigkeiten selbst nimmt, war eigentlich nicht Sinn der Sache. Ob der Trend überhaupt noch umkehrbar ist, ist kaum zu sagen. Das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht werden jedenfalls, soviel kann man schon prophezeien, kaum etwas in diese Richtung übernehmen.


Quo vadis?

Welchen Weg das Grundgesetz in den kommenden Jahren, vielleicht sogar in den nächsten 75 Jahren einschlagen wird, kann niemand sagen. Möglicherweise wird es eine gewisse Abkehr von den Irrwegen der (jüngeren) Vergangenheit geben. Wenn das Grundgesetz aber weiter so instrumentalisiert und verändert wird, wird von seiner Substanz und von den guten Absichten seiner Schöpfer bald nicht mehr viel übrig sein.


Foto(s): Gerd Altmann

Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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