Arbeitszeit im Wandel: Wird der Acht-Stunden-Tag bald von der Wochenarbeitszeit abgelöst?

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Ein arbeitsrechtlicher Fachbeitrag zur geplanten Neuregelung der Höchstarbeitszeit im Koalitionsvertrag


I. Einleitung: Flexibilisierung der Arbeitszeit als politische Zielsetzung

Der klassische Acht-Stunden-Tag – lange Zeit als Grundpfeiler des deutschen Arbeitsschutzrechts verstanden – steht zur Disposition. Im aktuellen Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD findet sich ein bemerkenswerter Passus zur Neuausrichtung der Arbeitszeitregelungen. Ziel ist es, stärker auf die individuelle Lebensrealität von Arbeitnehmer:innen und die dynamischen Anforderungen der Wirtschaft einzugehen. Im Fokus steht dabei die Möglichkeit, die tägliche Höchstarbeitszeit künftig durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit zu ersetzen.

Diese angestrebte Neuregelung stellt einen Paradigmenwechsel im Arbeitszeitrecht dar, der erhebliche Auswirkungen auf Arbeitsverträge, betriebliche Praxis, tarifliche Regelungen und die arbeitsmedizinische Bewertung haben dürfte. Doch was genau ist geplant? Und wie passt das Vorhaben in den europarechtlichen Rahmen? Der nachfolgende Beitrag beleuchtet die Rechtslage im Detail und analysiert die arbeitsrechtlichen, praktischen und politischen Implikationen.


II. Status quo: Tagesarbeitszeit nach deutschem Arbeitszeitgesetz (ArbZG)

1. Die gesetzliche Grundlage: § 3 ArbZG

Nach § 3 Satz 1 ArbZG ist die werktägliche Arbeitszeit eines Arbeitnehmers auf acht Stunden begrenzt. Diese Grenze dient dem Schutz der Gesundheit, der Sicherheit am Arbeitsplatz sowie der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben.

Eine Verlängerung auf bis zu zehn Stunden täglich ist gemäß § 3 Satz 2 ArbZG erlaubt, sofern die werktägliche Arbeitszeit innerhalb von sechs Monaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden nicht überschreitet. Damit wird ein gewisser Ausgleichszeitraum zugelassen, um betriebliche Flexibilität zu ermöglichen, ohne den Schutzgedanken aufzugeben.

2. Tarifliche Abweichungsmöglichkeiten nach § 7 ArbZG

Das Arbeitszeitgesetz kennt zahlreiche Öffnungsklauseln zugunsten der Tarifparteien. Nach § 7 ArbZG können Tarifverträge – oder aufgrund solcher Tarifverträge auch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen – von den starren Grenzen des § 3 ArbZG abweichen. Dies ermöglicht etwa im Gesundheitswesen, in der Pflege, im Verkehrswesen oder in der Landwirtschaft Arbeitszeiten, die über zehn Stunden hinausgehen – unter Beachtung zusätzlicher Schutzmaßnahmen.

Doch selbst bei diesen tariflich erweiterten Modellen bleibt die maßgebliche Bezugsgröße die werktägliche Arbeitszeit.


III. Der Koalitionsvertrag 2025: Wochenarbeitszeit als neue Richtschnur

1. Wortlaut und Zielsetzung

Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD heißt es wörtlich:

„Deshalb wollen wir im Einklang mit der europäischen Arbeitszeitrichtlinie die Möglichkeit einer wöchentlichen anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit schaffen – auch gerade im Sinne einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf.“

Diese Formulierung deutet an, dass die tägliche Begrenzung künftig nicht mehr verpflichtend sein soll, sondern dass eine wöchentliche Höchstarbeitszeit den maßgeblichen Rahmen bildet.

2. Was sich ändern würde

Der zentrale Unterschied: Während bislang pro Tag maximal acht (bzw. zehn) Stunden gearbeitet werden dürfen, könnten Arbeitnehmer:innen künftig etwa:

  • vier Tage à zehn Stunden arbeiten,

  • dafür drei Tage frei haben (z. B. Freitag bis Sonntag),

  • oder einzelne Tage mit hoher Belastung durch andere Tage mit geringerer Belastung ausgleichen.

Die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit (z. B. 40 Wochenstunden) bliebe unverändert – lediglich die Verteilung innerhalb der Woche würde flexibler gestaltet.


IV. Europarechtlicher Rahmen: Die Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG

1. Art. 6 RL 2003/88/EG: Wöchentliche Höchstarbeitszeit

Die europäische Arbeitszeitrichtlinie definiert keine tägliche, sondern lediglich eine wöchentliche Höchstarbeitszeit:

„Die durchschnittliche Arbeitszeit für jeden Siebentageszeitraum darf 48 Stunden einschließlich der Überstunden nicht überschreiten.“

Diese Regelung stellt einen Mindestschutzstandard dar, der für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich ist (vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV). Nationale Regelungen dürfen darüber hinausgehen, aber nicht darunter.

2. Art. 3 RL 2003/88/EG: Tägliche Ruhezeit

Die Richtlinie schützt allerdings auch die Gesundheit der Beschäftigten durch die Verpflichtung zur täglichen Ruhezeit:

Jeder Arbeitnehmer hat Anspruch auf mindestens elf zusammenhängende Stunden Ruhezeit innerhalb eines 24-Stunden-Zeitraums.

Damit ergibt sich – unabhängig von der täglichen Arbeitszeit – eine faktische Begrenzung der Arbeitszeit pro Tag. Rechnet man von den 24 Stunden die elf Stunden Ruhezeit ab, verbleiben maximal 13 Stunden Arbeitszeit, von denen aber wiederum die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen abzuziehen sind.

3. Konsequenz: De-facto-Grenze bei ca. 12 Stunden/Tag

Nach deutschem Recht (§ 4 ArbZG) muss bei einer Arbeitszeit von mehr als neun Stunden eine Pause von 45 Minuten gewährt werden. So verbleiben etwa zwölf Stunden und 15 Minuten als maximale tägliche Arbeitszeit – eine Grenze, die faktisch auch bei einer Wochenarbeitszeitregelung bestehen bleiben würde.


V. Praktische Beispiele: Wie könnte das neue Modell aussehen?

1. Beispiel: Vier-Tage-Woche mit je zehn Stunden

Ein Arbeitnehmer mit einer 40-Stunden-Woche arbeitet von Montag bis Donnerstag täglich zehn Stunden. Freitag bis Sonntag hat er frei. Die vertragliche Arbeitszeit wird nicht verändert – nur der Rhythmus. Dies fördert:

  • längere Erholungsphasen,

  • bessere Planbarkeit von Freizeit und Familie,

  • effizientere Nutzung von Arbeitszeit.

2. Beispiel: Baustellenbetrieb mit Wochenkontingent

Ein Bauarbeiter beginnt montags ein Projekt auf einer entlegenen Baustelle. Er arbeitet Montag bis Mittwoch je elf Stunden. Donnerstag werden noch sechs Stunden gearbeitet, Freitag ist frei. Damit bleibt er innerhalb des 48-Stunden-Korridors, hat aber eine effiziente Einsatzzeit auf der Baustelle.


VI. Stimmen aus der Praxis: Chancen und Risiken

1. Zustimmung aus der Wirtschaft

  • Zentralverband Deutsches Baugewerbe: Flexiblere Arbeitszeitmodelle ermöglichen eine schnellere Fertigstellung entlegener Bauprojekte.

  • Handelsverband: Bessere Reaktion auf umsatzstarke Tage im Einzelhandel.

  • Gesamtmetall: Die neuen Anforderungen an Industrie und Beschäftigte erfordern flexiblere Modelle.

2. Kritik von Gewerkschaften und Verbänden

  • Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB): Warnt vor „Entgrenzung der Arbeitszeit“ und „Kollaps“ in belasteten Berufsgruppen.

  • Hausärzteverband: Längere Arbeitstage in medizinischen Berufen seien kaum umsetzbar.

  • Philologenverband: Lehrerberuf lasse sich nicht mit starren Wochenmodellen erfassen – Arbeit falle oft außerhalb klassischer Zeiten an.


VII. Juristische Bewertung: Mehr Flexibilität – aber mit Grenzen

1. Verfassungsrechtlicher Rahmen

Die Arbeitszeitregelungen müssen sich am Schutzauftrag des Art. 2 Abs. 2 GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit) messen lassen. Arbeitszeit ist eng mit Gesundheitsschutz, psychischer Belastung und Arbeitssicherheit verknüpft.

2. Anforderungen an die Ausgestaltung

  • Eine gesetzliche Neuregelung müsste klar definieren, ob und wie das Wochenmodell umgesetzt wird.

  • Schutzvorschriften wie Ruhezeiten, Pausenregelungen und Nachtarbeitsgrenzen dürfen nicht aufgeweicht werden.

  • Mitbestimmung der Betriebsräte (§ 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG) ist bei Verteilung der Arbeitszeit zwingend erforderlich.


VIII. Fazit: Zwischen Flexibilität und Fürsorgepflicht

Die Diskussion um die Abschaffung des Acht-Stunden-Tags zugunsten einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit markiert einen bedeutenden Wandel im Arbeitszeitrecht. Die geplante Reform trägt dem Wunsch nach größerer zeitlicher Autonomie und betrieblicher Flexibilität Rechnung, birgt aber zugleich erhebliche Risiken für die Gesundheit und Planbarkeit des Arbeitsalltags, insbesondere in sozialen Berufen.

Ob sich die Wochenarbeitszeit als neues Leitbild durchsetzen wird, hängt maßgeblich davon ab, wie sorgfältig der Gesetzgeber die Schutzmechanismen gestaltet – und wie stark die Sozialpartner in die Ausgestaltung eingebunden werden.


IX. FAQ – Häufig gestellte Fragen zur Wochenarbeitszeit

FrageAntwort
Wird der Acht-Stunden-Tag abgeschafft?Nein, aber er könnte durch eine Wochenarbeitszeit ergänzt oder ersetzt werden – je nach Ausgestaltung.
Bedeutet das mehr Arbeit?Nein. Die vertraglich vereinbarte Gesamtarbeitszeit bleibt unverändert.
Gibt es eine neue tägliche Höchstgrenze?Durch Ruhezeit und Pausen ergibt sich eine faktische Grenze von ca. 12 Stunden/Tag.
Muss jede:r künftig flexibel arbeiten?Nein, die Umsetzung müsste mitbestimmt und ggf. tariflich geregelt werden.
Welche Branchen profitieren?Bau, Einzelhandel, Gastronomie, Projektarbeit.
Welche Risiken gibt es?Gesundheitliche Überlastung, schwerere Planbarkeit, Gefahr der Selbstausbeutung.

Rechtsanwalt & Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. jur. Jens Usebach LL.M. von der kanzlei JURA.CC bearbeitet im Schwerpunkt das Kündigungsschutzrecht im Arbeitsrecht. Der Fachanwalt für Arbeitsrecht vertritt Mandanten außergerichtlich bei Aufhebungsverträgen und Abwicklungsverträgen bei der Kündigung des Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber. Soweit erforderlich erfolgt eine gerichtliche Vertretung bei der Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht mit dem Ziel für den Arbeitnehmer eine angemessene und möglichst hohe Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes, ein sehr gutes Arbeitszeugnis für zukünftige Bewerbungen oder auch die Rücknahme der Kündigung und die Weiterbeschäftigung zu erzielen.

Mehr Informationen unter www.JURA.CC oder per Telefon: 0221-95814321

Foto(s): kanzlei JURA.CC

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