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Arbeitsweg, Umweg, Wegeunfall – zahlt die gesetzliche Unfallversicherung?

  • 5 Minuten Lesezeit
Gabriele Weintz anwalt.de-Redaktion

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Erleidet ein Arbeitnehmer auf dem direkten Weg zur Arbeit oder von dort wieder direkt zurück nach Hause einen Unfall, greift die gesetzliche Unfallversicherung, sofern ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Arbeitsweg und der versicherten Tätigkeit vorliegt. Was passiert aber, wenn der Unfall sich auf einem Weg ereignet, der nur benutzt wurde, weil sich der Arbeitnehmer verfahren hat? Dies musste in einem aktuellen Fall das Landessozialgericht (LSG) Hessen entscheiden.

Arbeitnehmer hat einen Unfall

Der 1965 geborene Arbeitnehmer wohnte in Frankfurt am Main und arbeitete als Lagerist für einen Fachgroßhandel in Eschborn. Im Rahmen seiner Tätigkeit wurde er manchmal als Springer in einer anderen Niederlassung seines Arbeitgebers in der Nähe von Mainz eingesetzt, so auch am 07.01.2011. Sein Dienst sollte um 17.45 Uhr beginnen. Auf dem Weg von seiner Wohnung zur Arbeitsstelle hatte er jedoch gegen 17.15 Uhr einen Verkehrsunfall. Wie sich herausstellte, hatte er sich verfahren. Als er dies bemerkte, wendete er verbotswidrig auf einer vierspurigen Bundesstraße. Dabei übersah er ein hinter ihm fahrendes Fahrzeug, sodass es zu einem Zusammenstoß kam, in dessen Folge er schwer verletzt wurde. Aufgrund seiner schweren Verletzungen und eines Schädel-Hirn-Traumas lag er zwei Wochen im Koma. Im November 2011 wurde er stufenweise wieder in sein Arbeitsverhältnis eingegliedert.

Kein Arbeitsunfall laut Versicherung

Der Arbeitnehmer wandte sich an die für ihn zuständige Berufsgenossenschaft, um den Unfall als Arbeitsunfall anerkennen zu lassen. Jedoch lehnte diese seinen Antrag und die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Sie begründete dies damit, dass sich der Mann auf einem nicht versicherten Weg befunden habe und nicht auf direktem Weg zu seiner Arbeitsstätte. Er hätte von der A 671 an der Ausfahrt 6 auf die B 43 in Richtung G-Stadt/H-Stadt abbiegen müssen. Der Unfall ereignete sich zwar auf der B 43, jedoch in entgegengesetzter Richtung zwischen Bischofsheim und Rüsselsheim. Für diese Strecke gab es nach Ansicht der Berufsgenossenschaft weder betriebliche noch verkehrstechnische Gründe, sodass davon auszugehen ist, dass für diesen Weg nur persönliche Gründe des Antragstellers sprachen, und daher der Unfallversicherungsschutz nicht bestanden hat.

Wegen Stau anderen Weg genommen und verfahren

In seinem Widerspruch gegen die Anerkennung als Arbeitsunfall erklärte der Mann, dass er auf seinem Weg zur Arbeit die A 66 benutzt habe, es jedoch auf Höhe Hochheim zu einem längeren Stau gekommen sei. Da er nicht zu spät zur Arbeit kommen wollte, fuhr er auf die B 43. Allerdings müsse er einmal falsch abgebogen sein, und als er dies bemerkte, habe er wohl das unfallauslösende Wendemanöver eingeleitet. An den genauen Unfallhergang könne er sich aufgrund seiner schweren Kopfverletzungen nicht erinnern. Nachdem die Berufsgenossenschaft die polizeiliche Ermittlungsakte eingesehen hatte, wies sie den Widerspruch des Mannes mit Widerspruchsbescheid zurück.

Klage vor dem Sozialgericht (SG)

Gegen diesen Bescheid erhob der Mann schließlich Klage vor dem SG Frankfurt am Main. Er begründete seine Klage damit, dass er aufgrund seiner Verletzungen zwar keine Erinnerung an den Unfall habe, dass es aber nach Einsicht in die Ermittlungsakte bei der Polizei wohl so sei, dass er die A 66 benutzt habe, dann auf die A 671 wechselte und schließlich in die falsche Richtung auf die B 43 einbog. Als er den Fehler bemerkte, wollte er unverzüglich wenden und übersah seinen schräg hinter ihm fahrenden Unfallgegner. Daher sei sein Fehlverhalten bei schwierigen Licht- und Wetterverhältnissen auf einer ihm unbekannten Strecke nicht als relevante Abweichung vom direkten Weg von seiner Wohnung zur Arbeitsstätte anzusehen. Dieser Argumentation schlossen sich auch die Richter des SG an und bejahten einen Arbeitsunfall und damit einen Anspruch des Mannes aus § 8 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch VII (SGB VII). Sie sahen es aufgrund verschiedener Tatsachen als erwiesen an, dass der Mann, auch wenn er sich verfahren hatte, auf direktem Weg zur Arbeit war und den Weg dorthin nicht durch eigenwirtschaftliche Gründe unterbrochen hat.

Innerer Zusammenhang trotz Verfahrens

Gegen dieses Urteil hat die beklagte Berufsgenossenschaft beim zuständigen LSG Hessen Berufung eingelegt und dargelegt, dass es zum einen nicht zweifelsfrei erwiesen sei, dass der Fahrer auf direktem Weg zur Arbeitsstätte war. Zum anderen habe das SG die Beweislast des Klägers verkannt.

Die Richter am LSG sahen die Sache aber anders. Sie führten in ihrem Urteil zunächst aus, dass mit der Formulierung „unmittelbarer Weg“ in § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII gemeint ist, dass ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallweg und der versicherten Tätigkeit gegeben ist, wenn die Handlungstendenz darauf abzielt, die Arbeitsstätte zu erreichen. Das ist hier der Fall. Der Mann hatte seine Wohnung zu einer Uhrzeit verlassen, die es ihm ermöglichte, seine Arbeitsstätte rechtzeitig zu erreichen. Außerdem habe er vor Antritt der Fahrt mehreren Personen gegenüber erwähnt, dass er zur Arbeit fahre. Des Weiteren wurde im Fußraum des Unfallwagens die noch warme Thermoskanne mit Tee gefunden, die die Mutter des Klägers für die Arbeit zubereitet hatte.

Sonderfall Beweisnotstand

Dass der Kläger keine Erinnerung mehr an den Weg zur Arbeit hat und auch keine Zeugen für die Fahrt existieren, schadet in diesem Fall nicht. Einerseits ist aufgrund der Tatsachen davon auszugehen, dass der Kläger den üblicherweise benutzten Weg zur Arbeitsstelle über die A 66 und A 671 genommen hat. Andererseits kann sich der Kläger in diesem Fall auf den sogenannten Beweisnotstand beziehen, der immer dann zur Anwendung kommt, wenn der Versicherte aufgrund von schweren Kopfverletzungen Erinnerungsverluste hat und daher keinen Beweis mehr führen kann. Jedoch sind sowohl das fehlende Fahrtziel in Richtung Rüsselsheim als auch das Wendemanöver auf der B 43 Tatsachen und sprechen für einen direkten Weg des Klägers zur Arbeitsstelle.

Unfallversicherungsschutz ist gegeben

Aus diesen Gründen gehen die Richter davon aus, dass die Handlungstendenz des Klägers bei der Unfallfahrt auf das Erreichen des Arbeitsplatzes gerichtet war und daher trotz des Verfahrens ein Unfallversicherungsschutz gegeben ist. Auch schließt der Wortlaut des Gesetzes nach § 7 Abs. 2 SGB VII den Versicherungsfall trotz des verbotswidrigen Wendens nicht aus. Die Revision zum Bundessozialgericht wurde zugelassen und ist unter dem Aktenzeichen B 2 U 16/15 R anhängig.

Fazit: Die gesetzliche Unfallversicherung muss auch dann zahlen, wenn sich der Unfall auf einem Umweg ereignet hat und es erwiesen ist, dass die Handlungen unmittelbar vor dem Unfall darauf abgezielt haben, die Arbeitsstätte zu erreichen.

(LSG Hessen, Urteil v. 14.07.2015, Az.: L 3 U 118/13)

(WEI)

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