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Deutsche Regelungen der Unternehmensmitbestimmung vor dem EuGH

  • 5 Minuten Lesezeit
anwalt.de-Redaktion

Den Vorwurf der Europarechtswidrigkeit der deutschen Arbeitnehmermitbestimmung erheben Mitbestimmungsgegner schon seit Jahren. Mit seinem heutigen Urteil hat nun der Europäische Gerichtshof (EuGH) diese zentrale und für viele Unternehmen sehr bedeutsame Frage folgendermaßen geklärt: 

  • Die deutsche Unternehmensmitbestimmung verstößt nicht gegen Europarecht.
  • Die deutschen Mitbestimmungsregelungen stellen keine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit dar. 
  • Deutschland muss die Aufsichtsräte seiner Kapitalgesellschaften deshalb nicht für Beschäftigte aus ausländischen Tochtergesellschaften öffnen.

Was ist ein Aufsichtsrat und wie wird er gewählt?

Der Aufsichtsrat ist eines der drei möglichen Organe einer Kapitalgesellschaft. Kapitalgesellschaften wie z. B. die Aktiengesellschaft (AG), Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) oder Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) sind zwar aus rechtlicher Sicht juristische Personen, können aber – da es sich um rechtlich geschaffene Kunstpersonen handelt – nicht selbstständig handeln. Sie benötigen hierfür eigenständige Organe wie Vorstand bzw. Geschäftsführer, die Gesellschafterversammlung oder einen Aufsichtsrat, die sie vertreten. Nur so können sie Entscheidungen treffen, Mitarbeiter einstellen, Geschäftsverträge abschließen usw. 

Aufsichtsrat = Kontrollorgan 

Der Aufsichtsrat ist das Organ, das den Vorstand einer AG bestellt und kontrolliert, ob die Entscheidungen der Geschäftsführung im Interesse des Unternehmens sind. Die zentrale Aufgabe des Aufsichtsrats besteht deshalb darin, die Tätigkeiten der Geschäftsführung zu überwachen und zu kontrollieren, ob diese ihre Aufgaben „richtigmacht“. Mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit, der Zweckmäßigkeit und der Wirtschaftlichkeit nimmt der Aufsichtsrat eine sehr zentrale Rolle ein. 

Arbeitnehmer können im Aufsichtsrat sitzen 

Wie groß der Aufsichtsrat einer Kapitalgesellschaft ist und wie er sich zusammensetzt, hängt davon ab, wie groß das Unternehmen ist. Wenn das Unternehmen mehr als 2000 Mitarbeiter beschäftigt, schreibt das Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) vor, dass im Aufsichtsrat nicht nur Vertreter der Anteilseigner sitzen, sondern ebenso viele Vertreter der Arbeitnehmerseite. Das bedeutet beispielsweise, dass bei einer Unternehmensgröße von bis zu 10.000 Arbeitnehmern im Aufsichtsrat sechs Anteilseigner und sechs Arbeitnehmer sitzen. Für die Wahl der Arbeitnehmervertreter gibt es verschiedene Regeln, die unter anderem festlegen, dass nur die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer ein aktives und passives Wahlrecht besitzen und damit zur Wahl aufgestellt werden bzw. an der Wahl teilnehmen dürfen. 

Warum bestanden Zweifel an der Europarechtskonformität der Wahlbestimmungen? 

Genau diese Vorschrift, die das aktive und passive Wahlrecht von der Beschäftigung in Deutschland abhängig macht, löste europarechtliche Bedenken aus. Gerade bei der heutigen internationalen Verflochtenheit vieler Unternehmen sind Tochtergesellschaften in unterschiedlichen Ländern keine Seltenheit mehr. Besonders deutlich zeigt sich das beim Aufsichtsrat der TUI AG – einer deutschen Aktiengesellschaft, die an der Spitze des weltweit tätigen Touristikkonzerns TUI steht. Aus diesem Grund überwacht der Aufsichtsrat TUI AG die Geschäfte des gesamten Konzerns. Seine Arbeitnehmervertreter werden aber aufgrund der Bestimmungen des MitbestG nur von den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern gewählt, die lediglich ein Fünftel der Gesamtbelegschaft darstellen. Aus diesem Grund hat sich ein Aktionär der TUI AG vor den deutschen Gerichten gegen die Zusammensetzung des Aufsichtsrats seiner Gesellschaft gewendet und geltend gemacht, dass die entsprechende Rechtsgrundlage im MitbestG sowohl gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot als auch gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstoßen. 

Was hat der EuGH gesagt? 

Da die Frage, ob Beschäftigte in ausländischen Betrieben, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften ebenfalls ein aktives und passives Wahlrecht bei der Wahl der arbeitnehmerseitigen Aufsichtsratsmitglieder erhalten müssen, kontrovers diskutiert wird, hat das zuständige Kammergericht (KG) Berlin den Fall dem EuGH vorgelegt. Dieser hat mit seinem heutigen Urteil entschieden, dass die Regelung aus dem MitbestG nicht gegen das Europarecht verstößt. 

Diskriminierungsverbot nicht anwendbar

Der klagende Aktionär hatte unter anderem damit argumentiert, dass es sich bei den im Ausland tätigen Mitarbeitern in der Regel gerade nicht um deutsche Arbeitnehmer handelt, sondern vielmehr um Staatsangehörige des jeweiligen Landes. Das im MitbestG enthaltene Wahlverbot ausländischer Arbeitnehmer würde deshalb eine unionsrechtswidrige Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit darstellen. Unter einer unionsrechtswidrigen Diskriminierung versteht man eine Schlechterbehandlung von eigenen Staatsangehörigen und Bürgern anderer Nationen. 

Inhaltlich setzte sich der EuGH mit diesem potenziellen Verstoß gegen das EU-Recht nicht auseinander. Stattdessen stellte er fest, dass das allgemeine Diskriminierungsverbot in diesem Fall gar nicht anwendbar ist, weil die speziellere Arbeitnehmerfreizügigkeit einschlägig ist. Die Vorschrift aus dem MitbestG muss deshalb nur mit dieser speziellen europarechtlichen Freizügigkeit vereinbar sein. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine besondere europarechtliche Freiheit, die Arbeitnehmern das Recht einräumt, über die Grenzen ihres Landes hinaus im Unionsgebiet mobil zu sein und z. B. aus beruflichen Gründen in einen anderen EU-Mitgliedstaat zu ziehen. 

Arbeitnehmerfreizügigkeit von ausländischen Mitarbeitern nicht betroffen

Für nicht in Deutschland beschäftigte ausländische Mitarbeiter verstößt das Wahlverbot nicht gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Da es sich bei dieser Gruppe von Mitarbeitern typischerweise um Arbeitnehmer handelt, die in ihrem eigenen Heimatland tätig sind, kann die Vorschrift ihre Freizügigkeit von Haus aus nicht einschränken. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist nämlich nur dann einschlägig, wenn Arbeitnehmer von der ihnen zustehenden Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union Gebrauch gemacht haben oder von ihr Gebrauch machen wollen. Da beides hier nicht der Fall ist, fällt die Situation der nicht wahlberechtigten Arbeitnehmer der ausländischen Tochtergesellschaft nicht unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit mit der Folge, dass die gesetzliche Vorschrift in diesem Punkt nicht zu beanstanden ist. 

Verlust des Wahlrechts bei Wegzug keine Behinderung der Freizügigkeit 

Lediglich für den Fall, dass in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer in eine ausländische Tochter wechseln wollen, sind die Regelungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit betroffen. Nach der Auffassung der EuGH-Richter wird ihre Freizügigkeit aber nicht durch den Verlust der aktiven und passiven Wahlberechtigung bzw. des Rechts zur Ausübung des Aufsichtsratsmandats behindert. Nach Auffassung des Gerichts garantiert die Arbeitnehmerfreizügigkeit Arbeitnehmern nicht, dass der Umzug in einen anderen Mitgliedsstaat in sozialer Hinsicht neutral ist. Vielmehr können sich aus den unterschiedlichen Rechtssystemen Änderungen für den Arbeitnehmer ergeben, die sowohl von Vorteil als auch von Nachteil sein können. Dass Arbeitnehmer bei einem Wechsel in eine ausländische Tochtergesellschaft ihr Wahlrecht und das Recht zur Ausübung eines Aufsichtsratsmandats verlieren, ist insofern ein Nachteil, den sie hinnehmen müssen. Daher verstößt das MitbestG auch in diesem Punkt nicht gegen das Europarecht. 

(EuGH, Urteil v. 18.07.2017, Az.: C-566/15)

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