Arbeitszeitbetrug: Beweisverwertungsverbot, offene Videoüberwachung, verdeckte Videoüberwachung

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Bei der Rechtsfrage, ob ein Beweisverwertungsverbot vorliegt, unterscheidet das Bundesarbeitsgericht zwischen offener und verdeckter Videoüberwachung – so das BAG mit Urteil vom 29.06.2023 – 2 AZR 297/22, klarstellend. Quelle: Beck-online.de

Beweisverwertungsverbot grundsätzlich nicht gegeben, wenn von einer vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung bei einer offenen Überwachungsmaßnahme auszugehen ist

BAG: „Ein auf Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG gestütztes Verwertungsverbot scheidet – selbst unter Berücksichtigung der vom Senat zugunsten des betroffenen Arbeitnehmers unterstellten Vorgaben aus Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO – regelmäßig in Bezug auf solche Bildsequenzen aus einer offenen Videoüberwachung aus, die vorsätzlich begangene Pflichtverletzungen zulasten des Arbeitgebers zeigen (sollen), ohne dass es auf die Rechtmäßigkeit der gesamten Überwachungsmaßnahme ankäme.“ Quelle: Beck-online.de

Anders als bei einer verdeckten Überwachungsmaßnahme geht es bei einer für den Arbeitnehmer erkennbaren Überwachung nicht um den Schutz vor einer (heimlichen) Ausspähung, sondern vielmehr „nur“ um Entfaltungs-, Dokumentations- und Verbreitungsschutz

BAG wie folgt klarstellend: „Die Beeinträchtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung eines Arbeitnehmers durch eine offene Überwachungsmaßnahme wird zum einen durch die Verhaltenshemmung (psychischer Anpassungsdruck) und zum anderen durch die Verdinglichung des gleichwohl gezeigten Verhaltens samt der darin liegenden Gefahr der Verbreitung der Aufzeichnung bewirkt. Anders als bei einer verdeckten Überwachungsmaßnahme geht es bei einer für ihn erkennbaren Überwachung nicht um den Schutz vor einer (heimlichen) Ausspähung, sondern vielmehr „nur“ um Entfaltungs-, Dokumentations- und Verbreitungsschutz. Ein Verwertungsverbot kommt lediglich in Betracht, wenn und soweit der Arbeitnehmer bezogen auf diese Zwecke schutzwürdig ist.“ Quelle: Beck-online.de

Hieran fehlt es, wenn der Arbeitgeber durch die vorhandenen Daten von einer vorsätzlich begangenen Pflichtverletzung Kenntnis erlangt und auf diese reagieren will. 

BAG: „Der Arbeitnehmer wurde durch die vorangegangene Überwachung und Aufzeichnung seines Verhaltens nicht daran gehindert, selbstbestimmt zu handeln. Er hat sich vielmehr - trotz seiner Kenntnis von der Überwachung – für die Begehung einer Vorsatztat zulasten des Arbeitgebers entschieden. Zwar wurde dieses Verhalten dokumentiert und damit eine Verbreitung ermöglicht. Doch muss der Arbeitnehmer diese - von ihm angesichts der Offenheit der Überwachung erkennbare – Folge hinnehmen, soweit die betreffende Bildsequenz dazu verwendet wird, den „Tatbeweis“ in einem Kündigungsschutzprozess zu führen, also lediglich der Durchsetzung rechtlich geschützter Belange des Arbeitgebers dienen soll.  Das grundgesetzlich verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung kann nicht zu dem alleinigen Zweck in Anspruch genommen werden, sich der Verantwortung für vorsätzlich rechtswidriges Handeln zu entziehen.“ Quelle: Beck-online.de

BAG: „Aspekte der Generalprävention könnten allenfalls dann zu einem Verwertungsverbot in Bezug auf vorsätzliches Fehlverhalten des Arbeitnehmers führen, wenn sich die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers als solche trotz ihrer offenen Durchführung als schwerwiegende Verletzung des durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Rechts darstellt (denkbar zB bei offener Überwachung von Toiletten oder Umkleideräumen oder offener Dauerüberwachung ohne Rückzugsmöglichkeit)…

Das entspricht angesichts der zugunsten des Arbeitnehmers unterstellten Vorgaben in Art. 17 Abs. 3 Buchst. e DSGVO iVm. Art. 7 und Art. 8 GRC mit hinreichender Deutlichkeit dem Unionsrecht, was der Senat ohne ein darauf bezogenes Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheiden kann. Ein Verbot, inkriminierte Bildsequenzen aus einer offenen Videoüberwachung in Augenschein zu nehmen, besteht schließlich nicht deshalb, weil sie womöglich gar kein Verhalten des Arbeitnehmers zeigen, das eine vorsätzliche Verletzung der Rechtsgüter des Arbeitgebers darstellt oder doch auf eine solche hindeutet. Da Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 47 Abs. 2 GRC grds. gebieten, einem erheblichen Beweisantritt nachzugehen, darf eine Beweiserhebung nicht auf die bloße Möglichkeit ihrer Grundrechtswidrigkeit hin unterbleiben. Auch insofern bestehen für den betroffenen Arbeitnehmer ausreichende andere Schutzmechanismen. Ergibt die Inaugenscheinnahme „rein gar nichts“ iSd. Arbeitgebers, verliert dieser nicht nur den Prozess. Vielmehr kann in der weiteren Verarbeitung – eindeutig – irrelevanter Sequenzen und deren Einführung in einen Rechtsstreit eine schwerwiegende Persönlichkeitsrechtsverletzung liegen, für die er unter den Voraussetzungen von § 823 Abs. 1 BGB iVm. Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG eine Geldentschädigung (BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 – Rn. 36, BAGE 163, 239) oder nach Art. 82 DSGVO immateriellen Schadenersatz schuldet.“ Quelle: Beck-online.de

Rechtsfolge laut Bundesarbeitsgericht: Erkenntnisse des Arbeitgebers in Bezug auf den Arbeitszeitbetrug bei offener Videoüberwachung unterliegen nicht einem Beweisverwertungsverbot

BAG: „Im vorliegenden Rechtsstreit waren die – vermeintlichen – Erkenntnisse der Beklagten aus der Videoüberwachung an Tor 5 zum Werksgelände ebenso zu berücksichtigen, wie die Bildsequenz, die den Kläger beim vorzeitigen Verlassen des Werksgeländes zeigen soll, ggf. als Beweismittel in Augenschein zu nehmen wäre. Das Gleiche gilt für die Erkenntnisse der Beklagten aus der elektronischen Anwesenheitserfassung. Es handelte sich um eine offene, durch zumindest ein Piktogramm ausgewiesene und auch sonst nicht zu übersehende Videoüberwachung. Es ist rechtlich ohne Bedeutung, dass das Piktogramm – über das Monitoring hinaus – nicht gesondert auf eine Aufzeichnung und Speicherung der Bildsequenzen hingewiesen hat und die Beklagte ihren Informationspflichten aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 DSGVO möglicherweise nicht vollständig nachgekommen sein mag. Der Kläger musste jedenfalls damit rechnen, dass auch eine Aufzeichnung und Speicherung seines „Passierverhaltens“ erfolgen könnte. Er wurde nicht heimlich „ausgespäht“, sondern hat sich einer Erfassung seiner möglichen vorsätzlichen Pflichtverletzung „sehenden Auges“ ausgesetzt. Anders hätte es allenfalls gelegen, wenn die Beklagte ihn in Bezug auf die Erfassung und Speicherung von vorsätzlichen Pflichtverletzungen „in Sicherheit gewiegt“ hätte.“ Quelle: Beck-online.de

Zurückweisung an das LAG

BAG: „Der Senat kann aufgrund der bisher vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen nicht selbst abschließend über den vorrangigen Klageantrag gegen die außerordentliche fristlose Kündigung entscheiden…Die damit erforderliche Zurückverweisung umfasst den Antrag gegen die ordentliche Kündigung, den Auflösungsantrag der Beklagten und den Antrag auf Erteilung eines qualifizierten Endzeugnisses. Dagegen ist der Rechtsstreit hinsichtlich der Erteilung eines qualifizierten Zwischenzeugnisses rechtskräftig abgeschlossen.“ Quelle: Beck-online.de

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