Das Wichtigste zur Verfassungsbeschwerde
- 5 Minuten Lesezeit

Was wären die Grundrechte wert, wenn der Einzelne sich nicht wirksam auf sie berufen und sie im Ernstfall auch durchsetzen könnte? Das Grundgesetz schützt die Grundrechte bereits dadurch, dass Artikel 1 Absatz 3 sowohl die Gesetzgebung (Legislative) als auch die vollziehende Gewalt (Exekutive) und die Rechtsprechung (Judikative) bindet. Damit dürfen weder der Gesetzgeber noch die vollziehende Gewalt (z. B. öffentliche Verwaltung) noch die Gerichte die Grundrechte verletzen.
Falls sie dennoch in ihrer Tätigkeit Grundrechte verletzen, bietet das Grundgesetz dem Betroffenen mit der Verfassungsbeschwerde die Möglichkeit, sich zu wehren.
Die Geschichte der Verfassungsbeschwerde
Erstmals vorgesehen war die Verfassungsbeschwerde bereits in der sogenannten Paulskirchenverfassung von 1849, die jedoch bereits kurz nach ihrem Inkrafttreten politisch scheiterte. Lediglich die Idee von Grundrechten fand auch in den nachfolgenden Verfassungen Niederschlag.
Erst 1919 wurde in der Verfassung für Bayern der Rechtsbehelf einer Verfassungsbeschwerde wirksam eingeführt und nach dem Zweiten Weltkrieg waren es Bayern und Hessen, die sie 1946 in den Landesverfassungen verankerten.
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes entschieden sich schließlich gegen eine Übernahme der Verfassungsbeschwerde im Grundgesetz für Bundesebene. Erst 1951 wurde sie außerhalb der Verfassung durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) eingeführt. Weil sie in diesem einfachen Gesetz jederzeit abzuschaffen war, wurde sie letztlich 1969 in das Grundgesetz in Artikel 93 selbst aufgenommen, wo sie nur noch durch Verfassungsänderung aufgehoben werden könnte.
Zahlreiche Landesverfassungen sehen ebenfalls eine Verfassungsbeschwerde als Rechtsbehelf auf Landesebene vor.
Gesetzliche Grundlagen
Geregelt ist die Verfassungsbeschwerde in Art. 93 Abs. 4a, Abs. 4b GG, wo die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für Verfassungsbeschwerden festgelegt wird, sowie in §§ 90-95 BVerfGG. Letztere legen die Einzelheiten zum Verfahren fest, z. B. wer die Verfassungsbeschwerde einlegen darf, wie sie zu begründen ist oder auch welche Fristen zu beachten sind.
Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts
Ausschließlich zuständig für Verfassungsbeschwerden nach dem Grundgesetz ist das Bundesverfassungsgericht mit Sitz in Karlsruhe. Es ist gegenüber allen anderen Verfassungsorganen selbständig und unabhängig und unterliegt seinerseits somit keiner Kontrolle. Das Gericht hat zwei Senate, die aus jeweils acht Richtern bestehen. Deren Amtszeit ist auf maximal 12 Jahre begrenzt. Um besondere Qualifikation und Lebenserfahrung der Richter zu gewährleisten, sollen pro Senat 3 Richter gewählt werden, die zuvor bereits mindesten drei Jahre an einem anderen obersten Bundesgericht tätig waren (Bundesgerichtshof, Bundesfinanzhof, Bundesarbeitsgericht usw.).
Der Bundesgerichtshof entscheidet nicht nur über Verfassungsbeschwerden sondern auch über die Verwirkung von Grundrechten, die Verfassungswidrigkeit von Parteien, Organstreitigkeiten zwischen obersten Bundesorganen (z. B. Bundespräsident, Bundesrat, Bundestag) und die Vereinbarkeit von Bundesrecht und den einzelnen Landesrechten der Bundesländer.
Wer kann Verfassungsbeschwerde einlegen?
Jeder Grundrechtsträger kann sich mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die von ihm vermutete Grundrechtsverletzung wenden. Er muss jedoch von der Verletzung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Niemand darf also Verfassungsbeschwerde einlegen wegen einer Grundrechtsverletzung, die ihn selbst gar nicht trifft. Für die Gegenwärtigkeit genügt es aber, dass der Eingriff nicht weit zurück oder fern in der Zukunft liegt, sonst könnten zeitlich begrenzte Eingriffe, wie etwa grundrechtswidrige Festnahmen, Demonstrationsverbote o. ä. nachträglich nicht mehr der Grundrechtskontrolle unterzogen werden. Der Betroffene muss von der Verletzung auch unmittelbar betroffen sein, d. h. sie wirkt sich bereits auf ihn aus, ohne dass es eines weiteren Vollzugsaktes bedarf. Er wäre beispielsweise nicht unmittelbar betroffen, wenn die Verwaltung erst noch einen Verwaltungsakt aufgrund eines grundrechtswidrigen Gesetzes erlassen müsste, der dann zur Grundrechtsverletzung führt.
Weitere Voraussetzungen für Verfassungsbeschwerde
Akt der öffentlichen Gewalt: Der Eingriff gegen den sich der Beschwerdeführer wehrt, muss ein sogenannter „Akt der öffentlichen Gewalt“ sein. Dies können sein: alle Maßnahmen der Gesetzgebung (gegebenenfalls auch ein Unterlassen, wenn der Gesetzgeber hätte handeln müssen, um die Grundrechte zu wahren), alle Verwaltungsakte und auch alle gerichtlichen Endentscheidungen.
Rechtswegerschöpfung
Die Verfassungsbeschwerde ist keine zusätzliche Revisionsinstanz, die Urteile der anderen Gerichte abschließend prüft. Der Betroffene muss also vor Anrufung des Verfassungsgerichts alle gegebenen Rechtsmittel zur Beseitigung des verletzenden Aktes erfolglos eingelegt haben, sodass der Rechtsweg erschöpft ist. Dazu gehört auch, dass er in diesen Verfahren bereits die Verfassungswidrigkeit gerügt hat. Die Besonderheit der Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf bewirkt, dass die Wirksamkeit oder Rechtskraft der gerügten Gesetze, Urteile oder Verwaltungsakte nicht durch die Einlegung der Beschwerde aufgehoben oder gehemmt werden.
Form und Frist
Der Beschwerdeführer muss die Verfassungsbeschwerde schriftlich und innerhalb eines Monats beim Bundesverfassungsgericht einlegen. Die Frist beginnt mit der Bekanntgabe der grundrechtsverletzenden Maßnahme an den Betroffenen. Wird jedoch ein Gesetz angegriffen, so beträgt sie ein Jahr ab seinem Inkrafttreten.
Zur Begründung muss angegeben werden, welche konkrete Maßnahme (z. B. Gerichtsentscheidung oder Verwaltungsakt mit Datum, Aktenzeichen und Verkündungs- oder Zugangsdatum) beanstandet wird und welche Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte im Einzelnen dadurch verletzt sein sollen. Der Beschwerdeführer muss erklären, worin die Verletzung jeweils besteht und dazu auch die jeweiligen Urteile, Verwaltungsbescheide etc. inhaltlich wiedergeben bzw. als Kopie vorlegen.
Kostenfreiheit
Damit jedermann die Geltendmachung seiner Grundrechte möglich bleibt, ist das Verfahren der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich kostenfrei. Wird sie jedoch missbräuchlich eingelegt, darf das Verfassungsgericht eine Missbrauchsgebühr in Höhe von bis zu 2.600 € erheben, was jedoch nur selten vorkommt.
Die Entscheidung
Eine Kammer aus 3 Richtern des Verfassungsgerichts prüft vorab die Verfassungsbeschwerde auf ihre Zulässigkeit und Erfolgsaussichten hin. Fehlt es an den Zulässigkeitsvoraussetzungen oder hat sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, können die Richter die Annahme der Verfassungsbeschwerde ablehnen. Anderenfalls wird sie durch den zuständigen Senat zur Entscheidung angenommen.
Über die Verfassungsbeschwerde selbst wird (mit wenigen Ausnahmen) mündlich verhandelt. Stellen die Verfassungsrichter die Grundrechtsverletzung fest, heben sie den verletzenden Akt der öffentlichen Gewalt auf, d. h. Verwaltungsakte oder Gerichtsurteile werden aufgehoben, Gesetze für nichtig erklärt. In keinem Fall aber ersetzt das Gericht die grundrechtswidrige Maßnahme durch eine verfassungskonforme, es erlässt also kein neues Urteil, keinen Verwaltungsakt und auch kein neues Gesetz. Dies bleibt wiederum der jeweils zuständigen Stelle überlassen.
Verfassungsgericht als Wegweiser der Rechtsentwicklung
Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts sind in jedem Fall das letzte Wort zu einem Rechtsstreit mit Verfassungsbezug. Seine Bedeutung wird an folgender Beschreibung deutlich: „Das Grundgesetz gilt immer in der Form der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht.“
Zahlreiche Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden waren für die rechtspolitische Entwicklung in Deutschland maßgebend. Beispielhaft seien hier nur das Urteil zum Großen Lauschangriff, das Urteil über die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs nach der Fristenlösung, das Kruzifix-Urteil, das Kopftuch-Urteil („muslimische Lehrerin“), das Urteil über die Verfassungsmäßigkeit gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften oder erst in jüngerer Zeit zum Luftsicherheitsgesetz (Flugzeugabschuss bei Terrorgefahr) oder der Unzulässigkeit heimlicher Vaterschaftstests genannt.
(MIC)
Artikel teilen:
Rechtstipps zu "Verfassungsbeschwerde"
-
16.03.2023 Rechtsanwalt Dr. Olaf Hiebert„… unberücksichtigt oder verletzt Sie aus anderen Gründen in diesem Recht? Dann müssen Sie sehr schnell handeln. Es gilt nicht die Monatsfrist für die Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht …“ Weiterlesen
-
09.02.2023 Rechtsanwalt Mgr. Radek Hladký„… des Tschechischen Verfassungsgerichts, bei dem die Tschechische Post eine Verfassungsbeschwerde, einlegte, in seinem Urteil Az. I. ÚS 2820/20 vom 31.08.2021 bestätigt. Welcher Schluss kann daraus …“ Weiterlesen
-
07.02.2023 Rechtsanwalt Sören Grigutsch„… . 26.3.2019 – 251 Js 52/16), wobei dieses Urteil letztendlich nur für einen der beiden Raser vom Bundesgerichtshof bestätigt wurde (vgl. BGH, Urt. v. 18.6.2020 – 4 StR 482/19). Eine Verfassungsbeschwerde …“ Weiterlesen
-
06.02.2023 Rechtsanwalt Christian Keßler„… jedoch, dass dies sich in Zukunft ändern könnte. Die Kläger werden wahrscheinlich eine Verfassungsbeschwerde einreichen. Das Grundgesetz legt genau fest, welche Steuern und Abgaben erhoben werden dürfen …“ Weiterlesen
-
27.01.2023 Rechtsanwalt Thomas Hummel„… . Darum kann es im Familienrecht häufig sinnvoll sein, eine Anhörungsrüge einzulegen. In aller Regel ist die Anhörungsrüge aber erfolglos . Sie dient vor allem der Vorbereitung einer Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung …“ Weiterlesen
-
19.01.2023 Rechtsanwalt Christian Fuhrmann„… und es bestehe kein Anspruch auf Beiziehung der Akten. Der Betroffene legte daraufhin Verfassungsbeschwerde ein, die erfolgreich war. Nach Ansicht der Verfassungsrichter stellt die Verweigerung der Einsicht …“ Weiterlesen
-
14.01.2023 Rechtsanwalt Thomas Hummel„… und dass es doch nun bitte „richtig“ entscheiden solle, ist praktisch niemals erfolgversprechend. Verfassungsbeschwerde Ein häufigeres Rechtsmittel ist die Verfassungsbeschwerde . Dabei handelt …“ Weiterlesen
-
14.01.2023 Rechtsanwalt Hermann Kaufmann„… sich in den folgenden Monaten das BVerfG (Bundesverfassungsgericht) ebenfalls mit dieser Frage beschäftigen. Denn gegen die BGH-Entscheidung legte der Hamburger Strafverteidiger Gerhard Strate Verfassungsbeschwerde …“ Weiterlesen
-
12.01.2023 Advokát (RA in Tschechien) JUDr. Pavel Brach LL.M.„… auch die menschliche Würde und das Privatleben der Geschädigten durch die Mittel des Strafrechts geschützt werden müssen. Im Rahmen des Verhandelns einer Verfassungsbeschwerde gegen den Eingriff eines Organs …“ Weiterlesen
-
08.01.2023 Rechtsanwalt Günter Heine„… Mieterbund “ und der Eigentümerbund “ Haus und Grund“, bereits die nächste Verfassungsbeschwerde. VI. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen sind die ergangenen Feststellungsbescheide nicht unter …“ Weiterlesen
-
05.01.2023 Rechtsanwalt Dr. Daniel Kötz„… des Kindes kommt. Die Eltern sahen sich durch das Urteil in Ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG verletzt und legten Verfassungsbeschwerde ein. Die Rechtslage: Das Elternrecht aus dem Grundgesetz …“ Weiterlesen
-
22.12.2022 Rechtsanwältin Meltem Kolper-Deveci„… . Das Verfassungsgericht hatte aufgrund der Verfassungsbeschwerden zweier gleichgeschlechtlicher Paare entschieden. Diese waren zuvor vor Gerichten mit ihrem Antrag auf Eheschließung beziehungsweise …“ Weiterlesen
-
02.12.2022 Rechtsanwalt Thomas Hummel„… das Kind ausübe und die Mutter dies zumindest nicht verhindere. Auch, dass das Kind mittlerweile zweieinhalb Jahre alt sei, ändere daran nichts. Verfassungsbeschwerde Die Eltern legten daraufhin …“ Weiterlesen
-
19.11.2022 Rechtsanwalt Thomas Hummel„Die Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile ist als außerordentliches und außergewöhnliches Rechtsmittel konzipiert. Sie soll nur dort eine gerichtliche Entscheidung korrigieren …“ Weiterlesen
-
12.11.2022 Rechtsanwalt Dr. Ferdinand Unzicker„… der Fall. Auch für diese – für Fortwirtschaft unbrauchbaren – Flächen gilt das Verbot, weil absolut. Dagegen erhoben Eigentümer von, teils maroden, Waldflächen Verfassungsbeschwerde. Sie planen …“ Weiterlesen
-
05.11.2022 Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte„… Volksverhetzung. Hiergegegen legte der Angeklagte schlussendlich Verfassungsbeschwerde ein. Nach der Verurteilung 1996 waren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sechs Jahre vergangen. 2002 …“ Weiterlesen
-
17.10.2022 Rechtsanwalt Thilo Finke„… , sondern diese Tatsachen auch bezüglich der dort gar nicht angeklagten Frau rechtlich würdigte. Die Revision der Frau beim Bundesgerichtshof blieb ebenso erfolglos wie ihre Verfassungsbeschwerde beim …“ Weiterlesen
-
23.09.2022 Rechtsanwalt Jan Paul Seiter„… einen Verstoß gegen ihre Grundsätze. Das Bundesarbeitsgericht hatte die Kündigung für unwirksam erklärt. Auf Verfassungsbeschwerde der Beklagten hat das BVerfG das Urteil des BAG aufgehoben (BVerfG, Beschl …“ Weiterlesen
-
16.10.2022 Rechtsanwalt Dr. Kai Hentschelmann„… Infektionsschutzgesetzes unmittelbar in einem Bundesgesetz angeordnet sein wird, und ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz möglich erscheint, ist die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde …“ Weiterlesen
-
13.09.2022 Rechtsanwältin Anja Groeneveld„… Integrität wären. Mehrere Verfassungsbeschwerden richteten sich gegen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) über die Pflicht zum Nachweis einer Masernimpfung und über die bei Ausbleiben …“ Weiterlesen
-
06.09.2022 Rechtsanwalt Dr. Daniel Kötz„… an der Eingliederung hindert. Daraufhin legte der Insasse Verfassungsbeschwerde ein. Dieser wurde mit der Begründung stattgegeben, dass ein schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht des Insassen auf Meinungsfreiheit …“ Weiterlesen
-
24.08.2022 Rechtsanwalt Thomas Hummel„Im Hinblick auf Verfassungsbeschwerden gibt es einige landläufige Fehlvorstellungen. Heute widmen wir uns in aller Kürze einmal ein paar von diesen. 1. Man muss vor der Verfassungsbeschwerde immer …“ Weiterlesen
-
22.08.2022 Rechtsanwältin Dr. Sabine Veronika Berndt„… als auch ein unabhängiger Zeuge die Musik als ruhestörend empfunden haben. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 17.11.2009 - 1 BvR 2717/08 – auf die Verfassungsbeschwerde …“ Weiterlesen
-
03.08.2022 Rechtsanwältin Dr. Sabine Veronika Berndt„… des fachgerichtlichen Rechtsweges erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde, die jedoch erfolglos blieb. Insbesondere sei für den Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung aufgrund § 100 h Abs. 1 Satz 1 …“ Weiterlesen